Der 1. Band der Corona-Trilogie
Leseprobe:
Flughafen Düsseldorf. Das taghelle Neonlicht, das die Menschen immer krank aussehen ließ, stach ihm schmerzhaft in die Augen. Tom Hagen traf aus London ein. Tom Forge, sagte er sich. Ich muss mir die neue Identität einprägen. Ich heiße jetzt Tom Forge, 31 Jahre, bin Analyst bei der Unternehmensberatung ACA Consulting Group, in der Buckingham Palace Road, London. Das Unternehmen war ebenso renommiert, wie die Konkurrenten McKinsey, Boston Consulting oder Kienbaum.
Der Flughafen Düsseldorf war der größte in NRW und versorgte den siebtgrößten Wirtschaftsraum der Welt, hatte Tom in einer Broschüre der Lufthansa während des Fluges gelesen. Ihm war auch bekannt, dass im Umkreis von 100 Kilometern um Düsseldorf an die 18 Millionen Menschen lebten. Dieser Bereich, der auch das Ruhrgebiet umfasste, galt als größtes Ballungsgebiet in Europa und musste sich wirtschaftlich und kulturell nicht hinter Metropolen wie London oder Paris verstecken. Düsseldorf galt auch als Drehscheibe für den internationalen Flugverkehr. Beim Passieren der Sperre wurde sein Ausweis von dem Beamten vorschriftsmäßig über den Scanner gezogen. Alles in Ordnung. Trotz Vertrauens in die hervorragende Fälschung blieb ein Rest Zweifel, der auch bei ihm, der schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden war, ein unangenehmes Kribbeln erzeugte. Weder in London Heathrow noch während des Fluges waren ihm verdächtige Personen aufgefallen. Wegen der Pandemie war das Tragen einer Maske zur Pflicht geworden. Anfangs hatte er erwartet, dass es deshalb mehr Aufmerksamkeit erfordern würde, einen Verfolger ausfindig zu machen. Aber er war schnell eines Besseren belehrt worden. Die Wahrnehmung wurde nicht mehr von Augen und Gesicht abgelenkt. Die reinen Bewegungen und Körperhaltungen verrieten ihm mehr und schneller, was er wissen wollte. Seine Tarnung war notwendig, weil sein alter Name bei einem früheren Einsatz bekannt geworden war. Automatisch bewegte er sich zu den Transportbändern. Er hatte nicht viel Gepäck, aber der aktuelle Auftrag erforderte mehr als nur den Aktenkoffer. Es war noch unklar, wie lange er sich im Ruhrgebiet aufhalten musste. Gewohnheitsmäßig ließ seine Wachsamkeit auch an der Gepäckausgabe nicht nach. Weder die Mitreisenden noch das Personal schenkten ihm die geringste Beachtung. Der Rimowa-Koffer fiel auf das Transportband. Seine gesamte Ausstattung, wie Kleidung und alle Accessoires, waren diesmal im gehobenen Preissegment angesiedelt. Passend für die anstehende Aufgabe sollte ein vornehmer Eindruck vermittelt werden. Er trug Maßanzug, Seidenhemd, edle Krawatte und Schuhe von John Lobb aus der St. James‘s Street. Hoffentlich war der Aufwand gerechtfertigt und seine Legende wurde nicht durchschaut.
Er begab sich durch den Gang mit den grünen Schildern. Automatisch öffneten sich die elektrischen Schiebetüren und das ungewohnte Bild ‒ Menschen nicht mehr in Trauben drängelnd, sondern in dem erforderlichen Sicherheitsabstand und mit Schutzmasken versehen ‒ warteten geduldig auf ankommende Bekannte, Verwandte, Geschäftsfreunde. Neben Tom, in knapp bemessenen einem Meter fünfzig, schob mit beschwingten Schritten eine junge Frau ihren Lastkarren mit Gepäck vorbei. Ihr zusammengebundenes Haar wippte freudig. Sie stoppte kurz, zwang Tom ebenfalls seinen Schritt zu verlangsamen, dann erspähte sie ein hochgehaltenes Schild, auf dem René Azziz stand.
Toms Konzentration hatte auch jetzt nicht nachgelassen und er erkannte trotz Maske den Mann, der den Namen hochhielt. Die Augen über dem Atemschutz verrieten ihm durch ein Zucken, dass auch er ihn registriert hatte.
„Tom …“, sagte der Mann und kam nicht weiter.
Tom Forge entschied sich, trotz der vorzeitigen Enttarnung in seiner Rolle als Unternehmensberater aus London zu bleiben und fuhr sofort dazwischen.
„Hallo Christian, how are you?“ Musste er ausgerechnet schon hier, zu Beginn seines neuen Einsatzes, Christian Hellenkamp begegnen? Eine Zeit lang hatten sie viel miteinander zu tun gehabt. Christian hatte Geschichte, Pädagogik, Anglistik in Bonn studiert und für zwei Semester Politikwissenschaften in London. In der Londoner Zeit hatten sie sich kennengelernt. Neben dem Studium hatte Christian schon als Korrespondent für Zeitungen in Deutschland gearbeitet. Sie hatten sich angefreundet und gemeinsam die mit ihrem Aufenthalt in London verbundene Freiheit genossen. Viele Nächte hatten sie in den angesagten Clubs der britischen Metropole verbracht. Christian trug graue ausgeleierte Chinos und ein zerknautschtes Leinensakko. So kannte Tom ihn. Er hatte nie viel Wert auf sein Äußeres gelegt. Die 5 Jahre waren nicht Spurlos an ihnen vorüber gegangen. Christian wirkte schwammiger und irgendwie weicher. Soweit Tom das beurteilen konnte. Von sich wusste er, dass er durch Training und die Anforderungen, denen er ausgesetzt war, ihn härter gemacht hatten und ihn kantiger aussehen ließen.
„Du hier? Ich dachte, Du lebst gar nicht mehr“, begrüßte Christian ihn.
Tom schüttelte leicht den Kopf und hoffte, dass Christian ihn verstand.
René Azziz schaute verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her.
„Sind Sie der Redakteur für das Interview?“
Christian Hellenkamp bejahte, löste die Konfusion auf und eskortierte beide zum nächstgelegenen Ausgang.
„Halten Sie bitte Abstand“, sagte eine uniformierte Frau des Security-Dienstes.
Nach einem kurzen „Lassen Sie mich Ihr Gepäck …“ und dem „Nein Danke, ich kann das alleine …“ der modernen Frau stoppten alle drei an der ersten Stelle, auf halbem Weg zu den Parkhäusern, die genug Platz bot. Zur allgemeinen Erleichterung wurden die Masken fallengelassen. René Azziz‘ Blick hing an Tom. Christian beachtete sie nicht.
Für Tom hatte sie ein wirklich nettes Gesicht, kaum geschminkt, kein affektiertes Verhalten. Ihre perfekte Figur steckte in Jeans mit den gerade angesagten Rissen am Knie, T-Shirt und unauffälligem Jackett.
„Also“, begann Christian, „das ist …“
„Ich weiß, René Azziz“, sagte Tom, und fügte sofort hinzu, „und ich bin Tom Forge“, um zu verhindern, dass seine Tarnung aufflog. Er warf Christian einen strengen Blick zu. Auf Abstand bedacht, tauschten sie Verbeugungen und Freundlichkeiten aus.
„Ja Tom, Du hast das Schild gesehen, aber Du hast keine Ahnung, wer sie ist. Sie ist das neue Top-Model der Szene und sie soll die Moderation eines neuen Formats, einem Life-Style-Magazin, übernehmen. Ich habe die Ehre, sie abzuholen und unterwegs ein Interview zu führen.“
René Azziz lächelte Tom an. Er wusste, dass azziz heilig bedeutete aber für ihn hatte sie nichts heiliges an sich. Auf ihn wirkte sie nicht wie ein Model, eher wie eine eifrige Studentin, nicht aufgebrezelt, nicht als jemand zu identifizieren, der diesen Rummel mitmachte. Ganz natürlich kam sie daher und nett schien sie auch zu sein.
„Aber, wenn Du hier auftauchst, dann gibt es eine andere Story, das ist mal klar“, sagte Christian.
Wenn das so weiterging hatte Christian bald alles ausgeplaudert. Tom musste sich so schnell wie irgend möglich verabschieden.
„Ich habe lange überlegt, ob ich den Auftrag hier übernehmen soll. Genau das habe ich befürchtet, dass ich Dich wiedertreffe.“
„Befürchtet?“
„Aber nicht, dass es so schnell geht. Du schreibst nichts, ist das klar! Du hast mich überhaupt nicht gesehen.“
Tom gab Christian seine aktuelle Handynummer und fügte noch hinzu, „Forge, Tom Forge“, als der sie eintrug, und war froh, dass Christian das ohne weitere Erklärungen zu verstehen schien und mitspielte.
„Wie geht es Jen?“
„Wir sind zusammen.“
„Das dachte ich mir.“
Christian legte wieder los und Tom konnte den weiteren Wortwechsel nicht verhindern.
„Weißt Du, was damals in der Zeitung stand?“
„Will ich nicht wissen.“
„Eine Spur der Verwüstung habest Du hinterlassen.“
Tom dachte an den Bundespresseball vor fünf Jahren. Er hatte Christian vor die Toilette geschickt – lass niemanden rein, sag, es werde gerade geputzt. Christian hatte vor der Tür gestanden und er selbst hatte aufgeräumt. Es war einiges zu Bruch gegangen. Und blutig war es geworden, das stimmte wohl. Die Erinnerung verblasste.
René Azziz‘ Augen wurden immer größer.
Tom winkte ein Taxi, das gerade einen Reisenden abgeliefert hatte.
„Viel Spaß bei Eurem Interview.“