1974 – ein Jahr der Liebe, der Freiheit und der Revolution. Zum 50. Jahrestag der unblutigen Revolution in Portugal erzählt Joachim Stengel die Geschichte der amerikanischen Studentin Julia auf ihrem Weg durch die Wirren der Revolution, während sie sich zwischen zwei Männern und zwei Lebensentwürfen entscheiden muss. Es ist die Zeit des Aufkommens der freien Liebe und der Suche nach Selbstbestimmung in einer Zeit des Umbruchs. Dieses Buch feiert die Hoffnung, dass politische und soziale Veränderungen auch ohne Blut-vergießen möglich sind. Ein Buch, das den Geist einer Epoche einfängt, das von der Kraft der Liebe und den Möglichkeiten des Wandels erzählt.
Leseprobe:
01
Auf das Vorstellungsgespräch bei Roberto da Silva zu warten, entsprach so gar nicht Julias aktiver Art. Wofür brauchte eine Firma in Lissabon eine Englisch sprechende Telefonkraft? Der weiträumige Eingangsbereich mündete in einen langen Flur, von dem mehrere Türen abzweigten. Stühle mit glänzendem Chromgestell und schwarzen Lederpolstern standen für Besucher bereit. Nie zuvor war Julia zu einem solch formellen Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Bisher waren ihr alle Jobs einfach zugefallen, ohne dass sie sich darum bemühen musste. Sie richtete ihre Beine parallel aus, zog den Rock nach vorne und wischte mit den Handinnenflächen über die Hüfte. Sie war jung, unendlich weit von ihrer Heimat entfernt und sie würde es schon schaffen. Wenn sie den Job bekam, konnte sie ihre Schulden bei den anderen in der WG begleichen.
Vor einem halben Jahr war sie in Amsterdam gelandet, direkt aus New York. Sie hatte auf ihrer Reise bisher schon viel erlebt. Europa war aufregend, vor allem, wenn man aus einem Ort wie Plainwell, Michigan, kam. Wo seit der Einweihung der Charles A. Ransom District Library 1868 nichts Nennenswertes mehr passiert war. Und was gab es dort auch schon, außer dem Sun-Theater und dem Douglas Drive-In. Der größte Ort in der Nähe, Kalamazoo, war immerhin von Glenn Miller besungen worden. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Aber eigentlich war es ihr klar. Sie fühlte sich als Sammlerin. Sie sammelte Erlebnisse. Aber was suchte sie? War es die Sehnsucht, die sie in die Fremde gelockt hatte? Würde diese je befriedigt werden? Würde sie das Bedürfnis nach Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit je finden? Würde João, würde überhaupt irgendein Mann ihr das geben können?
Auf dem Weg hierher hatte sie aus dem Fenster des Linienbusses einen Lkw voller Menschen gesehen. Der aufgewirbelte Staub hatte sich wie eine Schicht aus grauem Puderzucker auf die Personen gelegt, die sich auf der offenen Ladefläche zusammendrängten. Starre Blicke aus bleichen, ausdruckslosen Gesichtern folgten ihr. Ein Transparent flatterte im Fahrtwind, auf dem sie das Wort Liberdade entziffern konnte. Freiheit. Inzwischen kannte sie die Verhältnisse in diesem Land ganz gut. Wie würde es sich wohl weiter entwickeln?
Die Erinnerung an das Erlebnis verblasste und Julia sah zu der Chefsekretärin hinüber. Senhora Ana Beatriz Cabral, wie sie dem Schild auf ihrem Schreibtisch entnahm, beobachtete sie von der Anmeldung aus. Dick aufgetragene Schminke erschwerte es, ihr Alter zu bestimmen. Sie wirkte genauso, wie Julia sich eine solche Person hier in Portugal vorstellte. Der Begriff Gouvernante beschrieb sie hervorragend. Jedes Mal, wenn sie die Finger von der Tastatur nahm, griff sie mit einer Hand nach dem Anhänger, der an einer langen Kette vor ihrer Brust pendelte und spielte damit. Die Augen der Bürokraft wirkten riesig, wenn sie Julia über den Rand ihrer großen Brille musterte. Als wenn sie Julia beurteilen wollte. Missbilligend, entschied sich Julia, war der richtige Ausdruck, missbilligend wirkte der Blick. Ein unwiderstehlicher Drang aufzustehen und umherzugehen überkam sie. Aber sie unterließ es.
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